Die Berge: Meine Lehrmeister
Von Sylvia Höhentinger
In der Stille der Berge habe ich die lautesten Gespräche mit meiner Seele geführt. Jeder Schritt nach oben, weg von der Zivilisation, ist ein Schritt tiefer in mein Inneres. Die Berge sind mehr als nur Gipfel zu erklimmen; sie sind eine Einladung, die Grenzen des Möglichen zu erkunden.
Die Berge lehren uns Demut, denn sie stehen unverrückbar und majestätisch, ungeachtet unseres Kommen und Gehens. Sie sind Zeugen der Zeit, unberührt von der Hektik des Alltags. In ihrer Gegenwart fühlt man sich klein, doch paradoxerweise eröffnet sich gerade in dieser Kleinheit der Raum für große Erkenntnisse.
Die Herausforderung der Berge ist doppelter Natur: physisch und mental. Jede Expedition fordert den ganzen Menschen. Es geht nicht nur um die körperliche Kraft, um Höhenmeter zu überwinden, sondern auch um den inneren Willen, die eigenen Ängste und Zweifel zu besiegen. Der Berg ist der ultimative Prüfstein für den menschlichen Geist.
Aber die Berge sind auch Lehrmeister der Achtsamkeit. Sie zwingen uns, im Hier und Jetzt zu sein. Jeder Schritt kann der entscheidende sein, jeder Griff muss sitzen. Es gibt keinen Raum für Ablenkungen. Diese vollkommene Konzentration, diese Verschmelzung mit dem Moment, ist eine Form der Meditation, die uns tief mit der Natur und uns selbst verbindet.
Die Schönheit der Berge liegt in ihrer Unbestechlichkeit. Sie schenken uns Momente von unvergleichlicher Erhabenheit, aber sie verlangen auch Respekt. Die Natur kennt keine Gnade für die, die ihre Grenzen missachten. In dieser rauen Ehrlichkeit liegt eine tiefe Wahrheit über das Leben selbst. Die Berge erinnern uns daran, dass wahre Erfüllung nicht im äußeren Erfolg, sondern in der inneren Reise liegt.
Ich habe in den Bergen Freiheit gefunden – eine Freiheit, die weit über das physische Entkommen hinausgeht. Es ist die Freiheit, sich den eigenen Ängsten zu stellen, die eigenen Grenzen zu erkennen und sie vielleicht sogar zu überschreiten. Es ist eine Reise zu dem, was Reinhold Messner einmal als den "nackten Menschen" bezeichnet hat: entblößt von allen gesellschaftlichen Masken, konfrontiert mit der Essenz seines Seins.
In meinen zahlreichen Aufstiegen habe ich gelernt, dass der wahre Gipfel nicht aus Stein besteht. Der wahre Gipfel ist die Erkenntnis, die wir auf dem Weg erlangen – über uns selbst, über das Leben und über die unzertrennliche Verbindung, die wir mit dieser Erde haben. Die Berge sind nicht nur eine physische Landschaft; sie sind eine Landschaft der Seele.
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